
17 Apr Was ist das Ziel? Sich einfach gut zu fühlen. Tag 89 von 90
Tag 89 von 90. Vorletzter Tag. Whup, whup!
Unser Verhalten basiert nicht unbedingt auf Logik und Ideen. Logik, Verstand und Ideen können unser Verhalten beeinflussen, aber schlussendlich entscheiden wir (unbewusst) nach Gefühlen.
Wir machen das, was sich gut anfühlt und vermeiden das, was sich nicht gut anfühlt. Recht simpel (dazu gibt’s auch einiges in meinem Buch im Kapitel zum Thema Motivation).
Damit wir etwas schaffen, was sich nicht gut anfühlt, brauchen wir eine Dosis Willenskraft. Wir vermeiden unsere Gefühle und „was sich gut anfühlt“ und machen stattdessen das, was „richtig“ ist (wie den Salat statt der Tafel Schokolade zu essen).
Unsere Gefühle sind manchmal aber auch wie ein kleiner, verspielter Hund, der in unserem Kopf lebt. Ein Teil von uns will ebenfalls nur essen, schlafen, Sex haben, spielen und überall hin pupsen, aber er denkt dabei nicht an die Konsequenzen oder an das Risiko.
Das ist der Teil in uns, den wir trainieren müssen.
Unsere Gefühle sind wichtig. Manchmal sind sie aber auch ein bisschen blöd. Sie beachten nicht mehrere Faktoren oder langfristige Konsequenzen. Die Schokolade schmeckt vielleicht gerade gut, aber die Inhaltsstoffe sorgen langfristig für Herzerkrankungen, was natürlich weniger cool ist.
Unsere Hunde-Gefühle überreagieren liebend gerne. Früher war das sehr wichtig. Sie wurden dazu entwickelt, um uns vor Gefahren zu schützen, falls ein Säbelzahntiger aus dem Busch hüpft und wir mit Kampf oder Flucht reagieren müssen. Doch jetzt ist es auch noch so, dass wenn wir Angst haben, möchten wir weglaufen oder uns verstecken. Wenn wir wütend sind, wollen wir Sachen zerstören.
Zum Glück hat die Evolution dann doch entschieden uns mit dem präfrontalen Cortex auszustatten und uns Verstand und rationales Denken zu schenken, damit wir über Vergangenheit und Zukunft und so Zeugs nachdenken können. Genau das macht uns auch zum Menschen. Nicht zum süßen, naiven Hund.

Das Problem ist nur, dass unser „Hunde-Hirn“ den Großteil unseres Verhaltens steuert. Intellektuell weißt du, dass der regelmäßige Alkohol und die schlechte Ernährung schlecht für dich sind, aber kurzfristig fühlst du dich gut, deshalb steuert dich dein primitiver Teil im Hirn dorthin.
Gefühle sind gut, um uns Leidenschaft zu geben, um Dinge richtig zu genießen, aber auch um zu trauern und wahrzunehmen, wie es uns aktuell geht. Aber unser Hunde-Hirn hat Grenzen. Es braucht einen Kontext und eine Richtung, Regeln und Informationen, um das Richtige tun zu können.
So. Was bedeutet denn das alles schon wieder? Warum schreibe ich das?
Wie schon öfters erwähnt, schreibe ich nicht, weil ich so klug und toll bin, sondern weil ich die gleichen Herausforderungen wie du habe und das meine Methode ist, um sie zu erarbeiten. Schreiben ist eine einfache und kraftvolle Möglichkeit, um Klarheit zu gewinnen und um herauszufinden, was in der inneren Gefühlswelt gerade passiert.
Und dazu diente mein 90-Tage Projekt – um zu sehen, was in mir vor geht. Tag 89. Viel hat sich verändert. Im positiven Sinne. Mehr dazu morgen.
Deshalb der heutige Artikel. Die Erklärung, dass wir ein „Hunde-Hirn“ und einen Verstand haben, ist natürlich sehr einfach ausgedrückt. Wir Menschen sind interessant. Wir wollen nicht auf unsere Gefühle hören. Hören dann auf den Impuls und tun es trotzdem irgendwie. Das Problem ist dann allerdings nicht die Schokolade, sondern der Verstand, der sofort über uns urteilt.
„Du hast keine Willenskraft.“
„Du schaffst ja nie etwas.“
„Jetzt wirst du wieder zunehmen.“
„Warum bist du nicht so diszipliniert wie andere?“

Ok, so richtig viel Sinn macht das Ganze noch nicht. Kommen wir zum nächsten Punkt: Selbstverleugnung.
Manchmal glauben wir, dass die glücklichste Person die ist, die super diszipliniert ist, alles unter einen Hut bekommt, den „perfekten“ Körper hat und somit immer brav „Nein“ zu Schokolade sagt. Und genau das wird in unserer Gesellschaft gelobt.
Selbstdisziplin = Willenskraft = Selbstverleugnung = Tolle Person
Hm.
Wir ignorieren unser instinktives Verlangen. Das führt zu einem Paradox. Wir fühlen uns schlecht wegen den Dingen, die uns eigentlich ein gutes Gefühl geben und nach denen wir uns sehnen.
Wir lernen Selbstdisziplin durch Scham – wir fangen an uns selbst zu hassen für die Person, die wir sind. Wir schämen uns für die Dinge, die uns Freude bereiten und die wir machen wollen, doch wir fürchten uns vor unserem eigenen Verlangen, schämen uns und machen das, was „richtig“ ist.
Das funktioniert vielleicht für eine gewisse Zeit, aber dann geht es nach hinten los. Ein Beispiel kennen wir Frauen nur zu gut. Wir halten brav Diät, verzichten auf Schokolade, Kuchen und im Prinzip alles, was gut schmeckt. Dann essen wir einmal ein Schückchen, es bleibt nicht bei einem Stückchen sondern es werden drei Tafeln, 4 Gläser Wein, 2 Kuchen und eine Tüte Chips daraus. Dann schämen wir uns. Am nächsten Tag geht die Diät von vorne los. Wir hätten wir das Problem lösen können? Indem wir uns selbst das Ok für ein Stückchen Schoki und ein Gläschen Wein geben, dieses genießen und 99% wären dann auch zufrieden gewesen und hätten keine Heißhungerattacke gehabt.
Ein weiteres Beispiel: Sex. Unser Hirn liebt Sex. Es fühlt sich gut an und biologisch & evolutionär gesehen ist es wichtig. Erklärt sich also von selbst, dass unser Hirn (und unser ganzer Körper) das recht fantastsich finden. Doch wenn du in unserer Gesellschaft aufgewachsen bist – vor allem als Frau – dann wurde dir vielleicht eingetrichtert, dass Sex etwas ganz böses ist und du wirst „bestraft“, wenn du dafür ein Verlangen hast. Es entsteht eine gemischte Gefühlswelt. Es fühlt sich doch so gut an, aber wir schämen uns dafür, dass wir es wollen. Anschließend fließen auch hier weitere Faktoren mit ein, wie das eigene Körperbild („ich schäme mich, dass ich so aussehe“), ein Bild, dass man immer abliefern muss (sonst bist du als Mann nichts wert) und so weiter.
Dieses Mischmasch an Gefühlen sorgt für eine ungemütliche, innere Spannung. Je länger man mit dieser Spannung rumläuft, desto größer wird sie. Das Verlangen geht nämlich nicht weg. Das Verlangen nach Sex, nach Nähe, nach der Schokolade, nach Liebe, nach Freiheit, nach Verbindung.. was auch immer es ist. Es geht nicht weg. Verdammt.
Irgendwann wird diese innere Spannung unerträglich und lässt sich auf zwei Arten auflösen.
Die erste Option ist das überkonsumieren. Oder auch die Gefühle zu betäuben. Emotionales Essen, eine Netflix Serie nach der anderen, Gefühle betäuben durch Tabletten oder Alkhol. Leider endet sowas auch in sexueller Gewalt. Gefühle zu betäuben und dem Verlangen nur nachgehen, wenn man kurz vor dem Explodieren ist, löst keine Probleme. Die Spannung ist kurz weg, aber die Scham kommt zurück.
So, diese Option klingt nicht gut. Was haben wir noch zur Auswahl?
Scham kann nicht betäubt werden. Sie kommt zurück, nur in einer anderen Form. Manche Leute finden eine produktive Art und Weise, um sich abzulenken. Sie arbeiten 100 Stunden in der Woche oder laufen Ultra-Marathons (oder Triathlons.. ähm, ja, ich). Das sind die Leute, die wir dann für ihre Willenskraft und Disziplin bewundern. Leider sehen wir nicht immer, was diese Person fühlt und ob sie sich selbst überhaupt mag.
Selbstdiziplin, die auf Selbstverleugnung aufgebaut ist, kann nicht langfristig halten.

Was ist die Lösung?
Ein gesundes Mittelmaß. Akzeptanz.
Eine gesunde Herangehensweise zur Selbstdisziplin basiert nicht auf Willenskraft oder Selbstverleugnung, sondern basiert auf dem Gegenteil: Selbstakzeptanz. Wir arbeiten mit unseren Gefühlen, nicht gegen sie.
Wir verurteilen uns ständig.
„Ich habe das Projekt nicht gemeistert, weil ich eine schlechte Person bin…“
„Andere schaffen das, aber ich nicht, weil ich eine schlechte Person bin..“
„Ich kann einfach nicht diszipliniert sein, weil ich eine schlechte Person bin..“
Vielleicht urteilst du gerade über dich: „Mann, ich urteile ständig über mich, weil ich so eine schlechte Person bin.„
Es gibt noch ein Problem mit dem Ganzen. Es fühlt sich auch ein bisschen gut an, das zu sagen. Komfort. Eine Ausrede. Sie erlöst uns nämlich von der Verantwortung für unsere Handlungen. Wenn ich sage, dass ich nicht aufhören kann Schokolade zu essen, weil ich so eine schlechte Person bin, dann hindert mich das „schlechte-Person-sein“ meine Zukunft besser zu gestalten. Ich kann ja eh nichts machen, oder? Warum sollte ich es probieren?
Wir widerstehen der Akzeptanz. Die Verantwortung ist furchteinflößend. Die Verantwortung sagt nämlich, dass wir uns verändern können (und Veränderung ist immer ein wenig beängstigend) und dass wir möglicherweise unsere Vergangenheit verschwendet haben. Und das fühlt sich auch nicht gut an. Achtung, hier ist eine Falle: Sag dir jetzt nicht, dass du eine schlechte Person, weil dir das jetzt erst einfällt!
Wir brauchen eine neue Perspektive: Nur, weil sich etwas nicht so gut anfühlt, bedeuetet das nicht, dass wir schlecht sind. Wir müssen aufhören auf alles und jeden eine Identität aufzubauen (mehr dazu in diesem Artikel).
Gefühle sind okay. Genauso, wie wir lernen, dass unsere körperliche Gesundheit wichtig ist und dass wir ein Pflaster auf die Wunde kleben, um es heilen zu lassen, dürfen wir auch unsere emotionalen Wunden heilen lassen (einen Podcast dazu gibt es hier).
Wir müssen akzeptieren, dass wir mit bestimmten Verhaltensweisen (vor allem, wenn sie sehr impulsiv sind) oft etwas betäuben oder verstecken wollen. Warum genießt du nicht das Stückchen Schokolade und stopfst stattdessen drei Tafeln in dich rein? Das Verhalten ist nicht das Problem. Die Ursache für das Verhalten ist das Problem.
Finde die Ursache. Gehe das Problem an. Akzeptiere es. Finde diese dunkle Seite an dir selbst, die du nicht magst. Konfrontiere sie und erlaube dir selbst all diese komischen, verwirrenden, wilden Gefühle zu spüren. Akzeptiere, dass sie ein Teil von dir sind. Und das ist völlig okay. Jetzt kannst du mit ihnen arbeiten, anstatt gegen sie anzutreten.
Dadurch werden zwei wundervolle Dinge passieren:
- Es gibt nichts mehr, was du zu betäuben hast. Bald werden diese Schokoladentafeln sinnlos erscheinen.
- Es gibt keinen Grund mehr, um dich selbst zu bestrafen oder zu verurteilen. Im Gegenteil: Du magst dich selbst, deshalb willst du dich um dich selbst kümmern. Noch wichtiger: Es fühlt sich gut an, sich um sich selbst zu kümmern.
Womit wir jetzt wieder am Anfang der Geschichte wären. Selbstdisziplin ohne Willenskraft. Wir wollen uns alle gut fühlen. Auch, wenn wir Diäten halten, ein Selbsthilfebuch nach dem anderen kaufen oder Bilder auf Social Media hochladen, am Ende des Tages geht es „nur“ darum, dass wir uns gut fühlen wollen. Wir wollen wir sein. Akzeptiert werden. Glücklich sein.
Wenn die Scham kleiner wird, wenn wir unsere Verletzlichkeit zeigen und annehmen, dann realisierst du auch, dass du mehr Benefit davon hast, wenn du etwas direkt machst, anstatt es aufzuschieben und es nicht zu machen. Jetzt entsteht die Disziplin ohne Willenskraft.
- Du stehst früh auf, weil du früh aufstehen willst, nicht weil du musst.
- Du isst gesund, weil es sich gut anfühlt, nicht weil du dich für deinen Körper schämst.
- Du hörst auf zu lügen, weil sich die Lüge schlimmer, als die Wahrheit anfühlt.
- Du trainierst, weil sich ein starker Körper und Bewegungen einfach besser anfühlen, als ein verspannter, rumliegender Körper.
- Du sagst was du willst. Du erzählst von deinen Bedürfnissen. Du sagst, was du willst, weil sich das authentisch sein einfach besser anfühlt, als das Verstecken hinter einer Fassade.
Und jetzt entsteht Disziplin für all die Dinge, die du wirklich machen willst. Alle anderen glauben, dass du einfach Glück hast und mit einer starken Willenskraft geboren wurdest. Doch du weißt, dass du nur die emotionale Arbeit gemacht hast. Du hast deinen emotionalen Ballast abgeworfen. Du arbeitest mit dir, statt gegen dich. Jetzt fühlt sich das gar nicht mehr so besonders an. Du bist zufrieden.
Und vermutlich fasst das mein 90-Tage Projekt ganz gut zusammen. Weniger emotionaler Ballast. Ein Neustart. Freiheit. Mehr dazu im kommenden, letzten Artikel, Tag 90.